Shiatsu, Daoyin und der "Umfassende Weg" des Seiki Soho

 

Shiatsu, Daoyin und der "Umfassende Weg" des Seiki Soho

Kultur, Ki und der Heiler als Künstler

 

Shiatsu, Daoyin und der „Umfassende Weg“ des Seiki Soho

Von Paul Lundberg

Shiatsu im Kontext

Wenn Shiatsu ­– worüber die meisten Menschen sich einig sind – in die Reihe der subtileren therapeutischen und medizinischen Praktiken gehört, könnte es durchaus dem Daoyin zugeordnet werden, der Methode, die kollektiv  mit „Führen und Auslösen“ umschrieben wird. In der Klassischen Chinesischen Medizin wird sie  – wegen ihrer Einfachheit, Kommunizierbarkeit und transformierenden Kraft – die ursprüngliche und ideale Form der Behandlung genannt. Daoyin, das sich aus den frühesten menschlichen Erfahrungen der Heilung entwickelte und durchdrungen war von den natürlichen (Yin-Yang) Prinzipien, umfasst und beinhaltet  alle manuellen Techniken und Übungen. Auch die subtileren Ansätze, Körper, Atem und Geist zu harmonisieren, gehören dazu. Nach dem „Buch des Gelben Kaisers zur Inneren Medizin“ wurden die subtilen Daoyin-Methoden von Menschen des Mittleren Königtums entwickelt. Sie waren die zentrale „Säule“ der Medizin, erstreckten sich aber auch auf die spezialisierteren und technischen Methoden wie Akupunktur, Moxa, Kräuter etc. und vereinigten diese. Sie wurden in den äußeren Bezirken entwickelt, wo die Bedingungen härter waren. Die Verfeinerung bedeutet eine innere Disziplin, durch die der Praktiker lernt, physische und mentale Kräfte zu integrieren, um das nötige Bewusstsein zu kultivieren, andere in ihren Selbstheilungskräften zu unterstützen. Aus diesen Gründen wurde die erzieherische und klassische Rolle des Arztes ausgeweitet. Sie schloss jetzt Philosophie, Dichtung und die Bildenden Künste – wie Malerei und Kalligraphie – ein. Dies öffnete kulturelle Kanäle, die zur Heilung beitrugen. Aus ähnlichen Gründen fanden die subtileren Übungen in den Parallel-Künsten wie der Selbstverteidigung in der „Inneren Schule“ der Kampfkünste, die der Gesundheit geweiht sind, ihren Höhepunkt. Im heutigen China findet Daoyin seinen Ausdruck in der Medizinischen Schule des zeitgenössischen Qi Gong und  – als Erweiterung –  in bestimmten Aspekten des Anmo-Tuina (Physiotherapie und Massage). Das Ziel und das wesentliche Heilungsprinzip des Daoyin ist Entspannung und geistige Ruhe. Es findet eine Entsprechung in den subtilen mentalen Praktiken und den Philosophien der buddhistischen und taoistischen „Schulen“ des Qi Gong. Kohärenz und Integration wurden so in die kulturellen Muster der Chinesischen Medizin und der Heilung eingewoben.

 

Wenn wir in Japan nach einer ähnlichen Kontinuität und ähnlichen Zusammenhängen für Shiatsu suchen, ändert sich das Bild beträchtlich. Der Einfluss der klassischen Chinesischen Medizin war immer sehr groß, doch die Japanische Traditionelle Medizin (Kampo) entwickelte auch ihren eigenen Charakter. Shiatsu wird, wie wir wissen, seit noch nicht allzu langer Zeit als eine besondere therapeutische Alternative zur „alten“ Massage (Anma) wahrgenommen, die an Ansehen verloren hatte. Shiatsu Ryoho, die „Fingerdruck-Heilmethode“, die von Tamai Tempaku entwickelt wurde, gehörte zum Kampo. Im Kampo vereinigten sich viele Methoden zu einer medizinischen Gesamtphilosophie. Der Rückzug der Tradition infolge des westlichen Einflusses und der Kriegsauswirkungen führten zu schweren Verlusten. Es kam zu einer Zersplitterung, durch welche Shiatsu seine Verbindung zur nährenden zentralen Basis verlor. Auch die Querverbindungen, durch die Shiatsu seine Authentizität und Vielfalt erhielt, gingen verloren. Als es sich wieder etablierte, hatte es sich teilweise von seinen Wurzeln in der Traditionellen Medizin und den anderen japanischen Methoden wie Ampuku und Sotai entfernt. Es wurde von verschiedenen Schulen gefördert, und es entwickelten sich unterschiedliche Stile, die bald auch in den Westen gelangten. Zu jener Zeit entstand das japanische Do-In als eine formale Selbstbehandlungsmethode. Jegliche tiefere Bedeutung, die diese Methode einst besessen hatte, ging verloren.

 

Tatsächlich finden die subtilen Prinzipien des Heilens in Japan ihre wahre kulturelle Resonanz über das Hara. „Hara“, die Erfahrung des physischen Körperzentrums als eine tief empfundene Verbindung mit der Natur, ist für Japaner etwas ganz Natürliches. In gewissem Sinn durchdringt es dort alle Lebensbereiche, besonders aber das traditionelle Handwerk, Zeremonien, Sport und die Artistik. Hier fungiert das Hara oder Tanden als Sammelpunkt von Kraft und als Koordinierungspunkt für Handlung. In der Traditionellen Japanischen Medizin ist die Bauchzone ein besonders wichtiger Fokus für die Diagnose und Behandlung Kranker. Das Hara ist aber auch ein entscheidendes Referenzzentrum für den Praktiker selber. Für das Hara-Training gibt es verschiedene Formen. Ziel dieses Trainings ist ein hochentwickeltes Bewusstsein, das Geist, Atem und Gefühle integriert. Das Hara verleiht allen manuellen Therapien, durch welche es kanalisiert wird, präzise Qualitäten, um heilende Übungen und heilende Praktiken zu unterrichten. Wenn man nahtlos das Spirituelle mit dem Irdischen verbindet, ist das Hara-Bewusstsein die Basis, den japanischen Beitrag zu den subtilen Heilkünsten in ihrer spontansten und menschlichen Form schätzen lernen.

 

Zeitgenössisches Shiatsu im allgemeinen und der westliche Ansatz im besonderen

konzentrieren sich im wesentlichen auf Theorien und Techniken, die mit den zwölf Ursprungsmeridianen in Verbindung stehen. Dazu gehört auch die erweiterte Version, die von Masunaga und anderen entwickelt wurde. Dies betont den Charakter von Shiatsu als therapeutische Besonderheit, deren Nutzen durch traditionelles Wissen erlangt wird. Als solches ist es effektiv. Ich glaube jedoch, dass die Konzentration auf die Hauptmeridiane einem gewissen Zwang unterliegen und zu künstlichen Interpretationen führen kann. Mit einer weiten Sichtweise, in der die Yin-Yang-Prinzipien eingeschlossen sind, und einem umfassenden Wissen über das historisch-medizinische Umfeld, aus dem es sich entwickelte, könnte Shiatsu wieder in ein weiteres Spektrum von manuellen Techniken und subtilen therapeutischen Ansätzen eingegliedert werden. Die Prinzipien des Hara wären die gemeinsame Grundlage für das praktische Training. Dies mag innerhalb der gegenwärtigen Struktur schwierig zu erreichen sein, ich glaube jedoch, dass ein geschmeidiger und kohärenter Ansatz des traditionellen Heilens von Körper und Geist aus einer solchen Integration entstehen könnte. Wir tun uns schwer mit der TCM, weil sie einerseits zu vielschichtig, andererseits zu detailliert für unseren Ansatz ist, und wir ignorieren einige wichtige Bereiche, weil wir sie nicht ausführlich genug für unsere Bedürfnisse erkundet haben. Die Idee, was Ki eigentlich ist, scheinen wir auf eine besondere westliche Art und Weise erfasst zu haben: Wir betonen zwar bestimmte Aspekte, lassen aber viele kulturelle Feinheiten aus, die das ganze Feld bedingen. Das ist durchaus verständlich, wenn man die kurze Geschichte der Östlichen Traditionellen Medizin im Westen betrachtet. Ich glaube jedoch, dass es nützlich wäre, unsere Sichtweise auf die Prinzipien, die in der  Tradition verwurzelt sind, zu überprüfen. Es handelt sich dabei um Prinzipien, die eine ganze Weltsicht ausdrücken und deren Unterschiede unsere Aufmerksamkeit und unseren Respekt mehr erfordern als wir vermuten. Wir haben viele Ideen aus dem Osten kopiert, und es ist uns gelungen, sie in unsere eigene Kultur einzugliedern, aber unsere „Fahrer“ sind nicht dieselben wie im Osten. Es gibt viele Elemente der japanischen und chinesischen Kulturen, die uns helfen könnten, ein ähnliches Spektrum an Bezügen in unsere eigene sozio-kulturelle Matrix einzubinden und sie in ihrer eigentlichen Bedeutung für die Heilung zu erkennen.

 

Ein Beispiel sind die Meditationspraktiken, die uns für die verschiedenen Beziehungen mit der Welt öffnen. Dadurch können wir uns besser entspannen und mehr vertrauen, um unsere gewohnten Haltungen und Sichtweisen aus einer größeren Entfernung zu betrachten. Wir könnten dann vielleicht sehen, dass wir ständig versuchen, Dinge in Ordnung zu bringen und zu kontrollieren. Wir sind es gewohnt, gut, effektiv und zielgerichtet zu arbeiten, oft, um Geld und Respekt zu verdienen, manchmal um Unsicherheiten und Schuld zu kaschieren. Die Taoistische Philosophie stellt in Frage, dass die Welt oder alles, was sie ausmacht, verbessert werden muss. Es ist vielmehr so, dass wir von den harmonisierenden Mustern der Natur lernen können. Die eher autoritären Philosophien des Westens sind grundlegend anderer Ansicht, auch wenn sie zu verschiedenen Zeiten von Dichtern, Mystikern, Wissenschaftlern und Künstlern angezweifelt wurden.

 

Im traditionellen System wurden die Meridiane mit ihren vielfältigen Bedeutungen (z.B. Lunge, Großes Yin des Armes) als Teil eines offenen und interkommunikativen Netzwerks angesehen. Hierzu gehörten viele zusätzliche Verläufe. Punkte oder Tsubos mit ihren möglichen Aktionen und Einflüssen sind oft Punkte des Zusammenfließens, des Ein- und Austritts, der Resonanz, der Übertragung etc. Sie bieten innerhalb einer allgemeinen Sammlung von Richtlinien viele Möglichkeiten. In einem diagnostischen Prozess würde der Praktiker aber eher intuitiv als intellektuell arbeiten, weil er weiß, dass die natürliche Yin-Yang-Orientierung und -Organisation des Körpers die Selbstheilungskräfte anregt und er darauf vertrauen kann, dass dies optimal geschieht. Weil es viele Körperfunktionen gibt, die miteinander verbunden sind und weil es allgemeine und genaue Wege gibt, auf denen bewusste und unbewusste Informationen übermittelt werden, tut der Praktiker so wenig wie möglich, er agiert nur, wenn es nötig ist. Damit die Prinzipien optimal kommuniziert und geteilt werden können, müssen sie erst einmal verstanden und in das Wesen des Praktikers aufgenommen worden sein.

 

Die gegenwärtige Debatte über den Gebrauch von Punkten im Shiatsu (auf der Grundlage der TCM) im Gegensatz zum Gebrauch der Meridiane (nach Masunaga), die ich verfolge und zu der ich gelegentlich auch etwas beitrage, ist für mich ein Zeichen dafür, dass, wenn wir von Integration sprechen, wir in einem Netz von verwirrenden und begrenzenden Konzepten verfangen sind, auf die wir unsere Handlungen stützen. Konzepte sind ein Teil unseres Wissens, aber sie werden zu starren Konventionen, wenn sie uns regieren, wenn wir zu sehr nach ihnen greifen.

 

Die Punkte sind tatsächlich gleichzeitig die Meridiane und potentiell mehr als nur ein Meridian, wenn sie so erkannt und in Anspruch genommen werden. Alles ist manifestiertes Qi, wenn es als die subtile Komponente der gesamten bio-systematischen Matrix verstanden wird. Das Potential jedoch hängt davon ab, wie wir es einsetzen und damit umgehen. Meiner Meinung nach haben wir die einfachen, typischen Prinzipien des Ki in unserem Hunger nach dem mehr Exotischen und Exakten übersehen. Diese Prinzipien können – richtig verstanden – effektiv in der Behandlung angewendet werden. Durch eine passende körperliche Berührung auf ausgewählten Schlüsselpunkten werden sie dem Körpersystem als Möglichkeiten angeboten. Über diese Berührung hinaus kann dem Klienten soviel Raum wie möglich gegeben werden, damit er seine Wahrnehmungen und Lebenskräfte integrieren kann.

 

Es ist wichtig, die Bedeutung der subjektiven Disziplin in der Östlichen Tradition schätzen zu lernen: die mentale und physische Kultivierung des Praktikers gilt in der Heilkunst als oberstes Gesetz. Es gibt immer mehr Beweise aus wissenschaftlichen Studien – wenn wir denn daran interessiert sind –, dass nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Pflanzen, ja sogar Zellen und das DNA-Material, aus dem wir bestehen, den subtilen Einflüssen unterliegen, die durch Gedanken und Emotionen hervorgerufen werden – sogar aus der Ferne. Es ist sogar möglich, dass unbewusste Prozesse genauso wichtig sind wie unsere Absichten, um Wirkungen zu erzielen. Tatsächlich könnte dieser Ansatz, ja die Art und Weise, wie wir sind, bedeutender sein als alles, was wir tun. In der TCM sprechen wir von emotionalen Disharmonien, Blockaden etc., wenn es um die „inneren“ Ursachen von Krankheit geht. Wenn unser Geist gestört ist, selbst wenn wir physisch stark und gesund sind, ist unser Wohlergehen schließlich auf jeder Ebene bedroht, und das wird auf diejenigen eine Auswirkung haben, die um uns sind. Wenn wir lernen können, uns auch in einer gestörten Umgebung geistig auszurichten und ruhig zu werden, werden wir unsere Emotionen und unser Ki zu meistern beginnen. Die Beschäftigung mit dem Bewusstsein hat im Osten eine lange Tradition. Hiermit will ich meine Ausführungen über Shiatsu-Methoden und Meridane beenden.

 

Ohne den Geist der Meridiane

Wenn wir einen Schritt zurücktreten, um eine neue Perspektive einzunehmen, erscheinen die allgemeinen Yin-Yang-Prinzipien, die der Meridian-Struktur vorausgehen, wieder als orientierende Richtlinien. Mit diesen meine ich jene Prinzipien, die die menschliche Beziehung zu Himmel und Erde widerspiegeln, die horizontale und vertikale Ausrichtung, den Atem selbst etc. Diese allein sind ausreichend, wenn wir der Intelligenz und der Empfindsamkeit unseres komplexen Körpersystems vertrauen. Das ganze Feld der traditionellen Medizin – einschließlich aller Meridiane – ist immer für uns da, um, wenn nötig, Zugang zur inneren Welt zu bekommen. Wir sollten aber auch sehen, dass die Medizin über seine vielen direkt fokussierten Methoden und Techniken hinausreicht, um mit der Gesellschaft, der sie dient, in Beziehung zu treten. Auf diese Weise werden wir daran erinnert, dass unsere Kommunikation und unser Kontakt mit unseren Klienten besser in Einklang gebracht werden kann, wenn wir uns selber dem gesamten Bereich der Kultur öffnen und uns ein ganzheitliches und ergänzendes Wissensgebiet zueigen machen. Die Kulturen des Ostens und des Westens haben immer Bezüge zum Leben und den menschlichen Bedingungen gehabt, in denen Heilung geschehen kann. Jede Medizin enthält das ganze Spektrum der linguistischen, sozialen, ethischen und künstlerischen Betrachtungen. Hier ist ein Reichtum an Einflüssen zu entdecken, miteinander zu teilen und in unseren Behandlungsrahmen, der von Offenheit und Weite bestimmt ist, einzubeziehen. Der Ansatz sollte jedoch nicht insistierend und mit Zwang beladen sein. Wenn der (Shiatsu-)Praktiker sich geistig und physisch entspannt und mehr durch seine „Präsenz“ zu arbeiten beginnt, wird seine Berührung eine mehr aufnehmende Qualität haben und nuancierter sein. Die Diagnose wird dann zur Behandlung.

 

Wir betreten jetzt das größere Theater des Heilens mit der bewussten Erkenntnis, dass – abgesehen von der Natur – das soziale Milieu, in dem wir eingebettet sind, unseren Geist konditioniert. Der kulturelle Raum, in dem menschliche Werte und menschliche Bestrebungen wichtig sind, ist die gemeinsame Basis und der Rahmen für unsere Arbeit. Wir sollten die verschiedenen Elemente unserer eigenen persönlichen Konditionierung in Bezug auf unsere Kultur erforschen und integrieren und die Grenzen transzendieren, die uns von unseren Mitmenschen trennen, wir sollten aber auch sehen, was uns mit ihnen verbindet. Das stellt die höchste Verpflichtung auf dem „Heilungspfad“ dar. Wenn wir mit Ki arbeiten, müssen wir auch an unserem Geist arbeiten. Wenn wir mit dem Geist arbeiten, bedeutet das, dass wir uns kulturell engagieren.

 

In Qi Gong- und Tai Chi-Kreisen heißt es, dass „der Geist das Qi regiert“. Dies geschieht jedoch nicht von einer ego-zentrischen Höhe oder Ferne aus. Der Geist reguliert das Ki prinzipiell durch Lernen und die subjektive Teilnahme an seinen natürlichen Prinzipien, d. h. durch Einsatz des Körper-Selbst, aber auch durch Bewusstseinspraktiken, die sich mit mentalen Konzepten und Prozessen beschäftigen. Hier könnte die gegenwärtige Psychologie hilfreich sein, obwohl die westliche Kultur leider die Tradition des physischen, mentalen und spirituellen Trainings nicht integriert hat. Die reichen Schätze des Ostens jedoch schließen eine umfassende Psychologie ein. Sie beinhaltet auch physische, künstlerische und spirituelle Aspekte. Das trifft für alle fernöstlichen Richtungen wie Taoismus, Zen, chinesisches Daoyin, Qi Gong und die japanische Hara-Kultur zu. Zu allen haben wir Zugang. Sie haben eine Bedeutung und einen direkten Bezug zu unserer Arbeit.

 

Einige von uns lieben die Idee,  Ki als „Energie“ anzusehen, und wir sind fasziniert von dessen Verbindung zur reinen Heilkunst. Aber die Gesetze des Wandels wurden von den „ewigen Philosophien“ der menschlichen Gesellschaft – und das „Klassische Chinesische Buch vom Wandel“ ist ein hervorragendes Beispiel dafür – in angemesseneren Begriffen ausgedrückt. Wir mögen uns daran erinnern, dass die Natur über die Jahrmillionen rohe Energie zunächst in einzelne und dann in immer komplexere Formen transformiert hat. Wenn wir das aufgreifen, was der Philosoph Ken Wilber die „verschachtelten Hierarchien“ der molekularen, mineralischen, biologischen, tierischen, menschlichen und sozialen Sphären nennt, finden wir komplexe Muster und Funktionen, die älteren Systemen unbekannt waren, jedoch als Eigenschaften der späteren und höheren Ordnungen, in die sie integriert sind, „auftauchen“. Energie dient als Grundlage für alle Sphären – in der Östlichen Philosphie sprechen wir von der „Universalität des Ki“. Aber nur in der menschlichen Gesellschaft ist es empfänglich für entwickelte menschliche Werte. Dafür gibt es viele Beispiele: Wahrheit, Schönheit, Hässlichkeit, Arroganz, Hohn, Fairness, Bereitschaft, Wertschätzung, Würde, Sorge. Da Photosynthese Gesteinen unbekannt ist, kann keines dieser aufgelisteten Dinge gefunden werden, wenn man Bestandteile des Systems, aus denen der Mensch gemacht ist, untersucht. Sie sind ausschließlich Produkte des kollektiven Geistes. Dennoch können sie angewendet werden, um auf die eine oder andere Weise den Zustand unserer äußeren Umgebung, unserer Gesellschaft, Biologie, unserer Hormone, der Energie und natürlich unserer Gedanken und Kultur zu beeinflussen. Anders ausgedrückt: Wenn Gestein der Photosynthese unterliegen würde, müsste es sich der Biologie unterwerfen. Unser Ki und alles, was uns sonst ausmacht, unterliegt auf allen Stufen unseres Bewusstseins dem Geist.

 

Um zu illustrieren, was alles zur Entwicklung des Menschen beiträgt, nehme ich mich als Beispiel. Mein kulturelles Milieu ist europäisch. Mein Familienhintergrund und meine Ausbildung, mein Werdegang und meine Erfahrung in verschiedenen Beziehungen, bei Krankkeit und in gesundem Zustand haben dazu beigetragen, das aus mir zu machen, was ich bin. Für alles bin ich dankbar. Ich habe sehr viele unterschiedliche Behandlungen bekommen. Sie stellen – einschließlich der Psychotherapie – ein Spektrum von medizinischen Ansätzen dar. Als eine Art „Therapeut“ bringe ich meine physischen Fähigkeiten, mein verletztes Herz und meinen teilweise offenen Geist in meine Arbeit mit anderen ein. Meine seit langem bestehende Liebe zu den Philosophien und den Kulturen des Ostens bestimmen ganz entscheidend das Aroma, die Neigung und Vorgehensweise meiner Arbeit. Sie hilft mir, einen umfassenden Blick (sagen wir Yin-Yang) auf die Dinge zu werfen. Ich bin nach wie vor sehr interessiert an meiner eigenen Gesellschaft und fühle, dass mir das hilft, mich selbst einzuordnen und angemessen in meinem täglichen Leben zu handeln. Dennoch bereichern mich die Gaben und Erfahrungen des Ostens. Es gibt immer noch sehr viel, was ich nicht über mich weiß, und noch weniger weiß ich von den Menschen, die ich behandeln darf. All das zählt. Je bewusster wir uns dessen sind, desto besser.

 

Mein chinesischer Qi Gong Lehrer, Dr. Shen Hongxun, half mir, die Wichtigkeit zu erkennen, mein eigenes subjektives Bewusstein in Bezug auf Heilung zu trainieren und schätzen zu lernen. Sein Ansatz lässt Daoyin lebendig werden, da deren Grundsätze auf sehr genaue und persönliche Weise erfahren und entwickelt werden können. In dieser Arbeit ist es absolut wichtig, dass wir unseren persönlichen Zustand und unsere physischen, emotionalen und mentalen Bedingungen erkennen und unsere kollektiven kulturellen Funktionen klären. Bestimmte Übungen und bewusst ausgeführte Haltungen und Atemtechniken sind ebenfalls wichtig. Ich habe das Phänomen des Daoyin Qi Gong bereits an anderer Stelle ausführlich erläutert. Hier möchte ich mit folgender Bemerkung schließen: Das Östliche Konzept des „Weges“ als einer Kunst des Lehrens oder des Vermittelns begleitet uns ein Leben lang.

 

Der Seiki Weg

Seit vielen Jahren folge ich dem japanischen Lehrer Akinobu Kishi, der auch in Europa großes Ansehen genießt, auf diesem „Weg“. Er hat den Ausdruck Seiki aus der japanischen traditionellen Heilpraxis ausgeliehen, um seinen Ansatz zu beschreiben. Zuerst hatte man den Eindruck, dass dieser Begriff mysteriös, ohne rechten Sinn oder sogar leichtgewichtig sei. Es ist ein System, das auf den Kern beschränkt ist, frei von etablierten Methoden und sich ganz und gar auf sensible Gefühle, genaue Beobachtung und Respekt vor jeder Nuance der Verhältnisse konzentriert. Gleichzeitig ist es ungeheuer offen im Geist. Seine einfachen Praktiken sind von dem authentischen Gefühl der Hara-Kultur erfüllt und umfassen alle wesentlichen Aspekte des Daoyin. Von denen, die sich dazu hingezogen fühlen, erfordert Seiki Tugenden wie Beharrlichkeit, Ausdauer und eine sanfte Selbstdisziplin, die uns meistens ungewohnt ist. Dennoch habe ich tiefe Veränderungen erlebt und großen Nutzen in dieser Praxis gesehen, die gleichermaßen von dem ehrwürdigen Respekt vor der Natur und einer postmodernen Multikultur inspiriert ist.

 

Ich möchte mich bei Seiki auf einen Ansatz konzentrieren, der ganz klar demonstriert, wie kulturelle Kräfte unsere Lebendigkeit und unser Wohlergehen beeinflussen, wie die uns innewohnenden natürlichen Fähigkeiten uns fördern und uns darüber hinaus zum Feiern einladen. Seiki ist sozusagen ein Weg, unser Leben zu feiern.

 

Seiki führt zu einer umfassenden Sichtweise, die uns hilft, kulturelle Einflüsse zu erkennen und sie bewusst in unsere therapeutische Arbeit aufzunehmen. Da sich der japanische Geist darin ausdrückt, sind wir als Shiatsu-Praktiker daran besonders interessiert. Aber Seiki führt uns auch zu den kulturellen Dimensionen des Heilens im allgemeinen, so dass wir die reichen Quellen unserer eigenen Kultur besser schätzen und nutzen lernen.

 

Der Seiki-Ansatz des Heilens (Seiki-Soho) ist und bleibt fest eingebettet in einfache Prinzipien. Diese können in drei Hauptkategorien eingeteilt werden:

  1. Wir sollten uns nur von den  allgemeinen Yin-Yang-Prinzipien leiten lassen, wenn wir den Körper studieren. Wir erkennen und kontaktieren die Lebensbewegung direkt und lernen so von der Natur selbst. Allmählich entwickeln wir eine Empfindsamkeit, eine tiefe Einsicht und ein umfassendes sensitives Bewusstsein, das wir sowohl auf uns selber als auch auf andere übertragen können. Dieses umfassende Bewusstsein basiert auf der Kultivierung des Atems in Bezug auf den Körper-Geist und desgleichen auf das vitale Zentrum oder den „Still-Point“, den wir als Tanden im Bauchraum oder „Hara“ kennen. Es ist der Aspekt der japanischen Kultur, der in allen kreativen und künstlerischen Ausdrucksweisen zu finden ist.
  2. Wir werden uns durch das Studium unseres eigenen Geistes der begrenzten Natur unserer Existenz bewusst. Dadurch können wir den Geist unserer Mitmenschen besser verstehen. Wir kultivieren Geduld, Gleichmut, Urteilskraft, Fairness und Mut. Unser Mitgefühl wird geweckt.
  3. Wir studieren die Gesamtsituation und verbinden unsere Intelligenz in einem Akt konzentrierter kreativer Kraft bewusst mit den vorhandenen Kräften. Wir geben unsere persönlichen Bestrebungen auf und lernen zu vertrauen. Allmählich entwickeln wir Weisheit als „Waffe“ gegen Verblendung.

Wir sind von dem Spezialistenwissen und den Techniken der Medizin unabhängig. Obwohl sie zu bestimmten Zeiten hilfreich und notwendig sein können, haben sie eine andere Bedeutung. Wenn wir behandeln, bieten wir einen sicheren Raum, in dem unsere Klienten sie selber sein können. Sie sind unsere Gäste und unsere Gastwirte in einer Situation der Hochachtung und des Repekts.  Wir praktizieren die traditionelle Diagnose des Fragens, Beobachtens, Zuhörens und – natürlich – des Berührens. Dadurch verbinden wir uns mit der Welt unseres Klienten, versuchen aber nicht, ihn zu verändern.

 

Das mag uns schwer fallen. Dennoch können wir  Veränderung fördern, wenn wir uns demütig und ohne Werturteil in die Situation hineinbegeben. Wir wollen dem Klienten die tiefe innere Schicht seines Wesens spiegeln, in der Leben und Heilen ein und dasselbe sind. Disziplin und Engagement sind nötig, um zunächst selber die Qualitäten zu trainieren und zu entwickeln. Seiki bietet Praktiken, die den Geist reinigen, unser Selbst-Bewusstsein fördern, zur Wahrheit führen und unsere physischen, persönlichen und sozialen Fähigkeiten trainieren. Immer aber beginnt es bei Null und führt dorthin zurück. Immer geht es um die Leere.

 

Seit den Griechen hat uns die westliche Philosophie dazu angeregt, uns selber zu erkunden und zu verstehen. Die östlichen Philosophien werden begleitet von praktischen Methoden, diese Suche fortzusetzen. Die Traditionelle Fernöstliche Medizin ist Teil dieser Philosophie, weil sie weiß, dass die Harmonie von Körper, Geist und Seele die Basis für Gesundheit ist. Sie hat eine kohärente Sichtweise der Behandlung entwickelt, die die mehr intervenierenden Methoden mit den subtilen erzieherischen, manuellen, personenzentrierten und bewusstseinserweiternden Ansätzen verbindet, die die Chinesen ursprünglich Daoyin (die führenden und auslösenden Methoden) nannten. Seiki-Soho, was soviel wie Behandlung durch „Führung“ bedeutet, kommt dem zeitgenössischen Geist des Daoyin nahe. Seiki geht jedoch sehr subtil über die medizinischen Themen hinaus, um Heilung in der alltäglichen Realität geschehen zu lassen. Es lädt uns ein und leitet uns an, uns sensibel mit der inneren Natur, dem Selbst und der Gesellschaft zu verbinden und einen Weg zur Harmonie in größtmöglichem Kontext zu finden.

 

Es können viele Fragen auftauchen, aber wir konzentrieren uns auf die menschliche Kondition in der Art und Weise, wie der Künstler sich aus der Natur und der Gesellschaft seine Inspiration holt. Wenn man an allem interessiert ist, stellt das das normale Leben auf eine Stufe mit der Kunst. Wir nehmen Anteil an unserer Welt, sorgen uns um sie und sorgen für sie. Reinigung und Meditation sind aber tatsächlich das Wichtigste für die Heilung. Heilung bedeutet Vereinigung, bedeutet Lebens-Harmonie. Das ist Seiki. Selbst wenn etwas disharmonisch ist, gibt es keine grundsätzliche Trennung.

 

Die Tradition weiß, dass – weil diese Position herausfordernd ist – die Disziplinen des Heil-Künstlers mit den transzendentalen Disziplinen des geistigen Kriegers identisch sind – sie sind tatsächlich ein und dasselbe. Konkret gesagt machen diese Disziplinen – mit Humor, Großzügigkeit, Achtsamkeit und Integrität ausgeführt – den eigentlichen Kern unseres Studiums und unserer Praxis aus.

 

Seiki ist eine Einladung an uns alle – ungeachtet unserer Erfahrungen und Praxis.

Aus dem Englischen von Anne Frederiksen

 

 

 

 

 

 

 

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