von 2009
Lieber Peter,
Du bist von Haus aus studierter Ökonom, politischer und wirtschaftlicher Unternehmensberater. Erinnerst Du Deinen ersten Kontakt mit Shiatsu? Was hat Dich daran so fasziniert, dass Shiatsu Dein beruflicher Lebensmittelpunkt wurde? Oder etwas salopper gefragt: vom Mandat auf die Matte - wie kam das?
Mein Körper reagierte mit Kopfschmerzen und Verdauungsproblemen auf mein gestresstes Leben. An einer Hausparty empfahl mir ein Freund Shiatsu. Ich konnte mich jeweils tief entspannen und nahm deshalb während fünf Jahren wöchentlich eine Behandlung. Ich war überzeugt, dass mich dies vor Burnout und Magengeschwüren bewahrt hatte. Eines Tages wollte ich mehr über Shiatsu erfahren, ging in einen Kurs und lernte Bettina kennen. Wir übten zusammen, bis sie meine Ehefrau und Shiatsu meine neue Berufung wurde.
Jeder Mensch erlebt Traumata in seinem Leben, begonnen mit der Geburt. Wann ist es notwendig, dass sich jemand in eine begleitende, unterstützende Behandlung begibt? Wirken nicht unsere Selbstregulierungsmechanismen automatisch für uns?
Trauma ist das Erfahren eines Geschehens, welches das Leben oder die seelische Identität bedroht. Meist kommt das Ereignis unerwartet, zu schnell und zu heftig. Es löst Gefühle der Überwältigung und der Ohnmacht aus. Der Organismus ist zunächst wie "eingefroren". Später können sich körperliche und seelische Überreaktionen wie Kopfschmerzen, rasche Reizbarkeit, Ängstlichkeit, oder im Gegenteil Unterreaktionen wie Mattigkeit, Gefühlslosigkeit und mehr zeigen. Die Traumaforschung geht davon aus, dass drei Viertel aller traumatischen Erlebnisse von Körper und "Seele" innerhalb von ein paar Wochen oder Monaten verarbeitet werden. Shiatsu kann dazu beitragen, das Geschehen besser und schneller zu verarbeiten. Ein Viertel der Betroffenen leidet nachhaltig unter Posttraumatischen Belastungsstörungen, bei denen eine professionelle Behandlung angezeigt ist. Besonders schwerwiegend sind wiederholte, absichtsvoll herbeigeführte Traumata (Gewalt, Übergriffe), insbesondere wenn sie Kindern von nahe stehenden Personen zugefügt werden. Shiatsu kann professionelle Traumatherapien sehr gut ergänzen.
Muss ich als Shiatsu-Praktizierende spezielle Kenntnisse über Trauma haben?
Ich erachte es als äußerst wichtig, dass Shiatsu-Praktizierende sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Beispielsweise sagen uns die Klientinnen oftmals nicht, dass ihren Beschwerden eigentlich ein Trauma zugrunde liegt. Ich hatte eine Klientin, die als Grund des Kommens Schulterschmerzen aufgrund von beruflichem Stress angab. Im Verlauf der weiteren Behandlungen - nachdem sie Vertrauen gefasst hatte - offenbarte sie mir, dass sie unter Schlafstörungen leidet und Angstphobien seit dem Erleben eines Aborts hat. Eine andere Klientin wurde ein paar Tage vor der Shiatsu-Behandlung Opfer eines Raubüberfalls; sie zitterte und weinte während der ganzen Behandlung. Es ist wichtig zu wissen, wie man sich in solchen Situationen verhalten soll. Mein Kurs hat zum Ziel, dass Shiatsu-Praktizierende mehr Sicherheit im Themengebiet Trauma erhalten. Im Kurs erfahren sie, was Trauma körperlich, seelisch und energetisch bewirkt, und wie wir mit Shiatsu, Gespräch und Übungsanleitungen eine situationsgerechte, gute Unterstützung anbieten können. Es ist gut zu wissen, was wir bei Traumfolgen tun können und was wir lassen sollen.
In der Traumaarbeit wird oft von Ressourcen gesprochen. Was ist der Unterschied zwischen einer Ressource und einer Reserve?
Source ist französisch und heißt Quelle. Die wörtliche Übersetzung des Begriffs lautet: "zurück zur Quelle". Ressourcen sind Quellen der Kraft, die uns helfen, das Leben zu meistern. Meist unterscheidet man in innere Ressourcen, also persönliche Eigenschaften, und äußere Ressourcen, beispielsweise das soziale Beziehungsnetz oder die Natur. Der Begriff "Resilienz" wird verwendet für die Fähigkeit, aus belasteten Situationen wieder in einen "gesunden" Zustand zurück zu finden. Nach einem Trauma ist diese Fähigkeit oftmals beeinträchtigt. Schwersttraumatisierte kommen aus eigener Kraft nicht mehr aus dem tiefen Loch heraus, in das sie das Trauma geworfen hat. Die Vergangenheit entfaltet einen wirbelartigen Sog, der die betroffenen Menschen nicht mehr loslässt. Sie bleiben Gefangene des belastenden Erlebnisses. Sie leiden unter körperlichen und seelischen Symptomen und bewegen sich in rigiden Denk- und Verhaltensmustern. Das volle Potenzial des Lebens kann nicht mehr ausgeschöpft werden.
Können wir alle in der Bewältigung unserer Traumata lernen "Stroh zu Gold zu spinnen" oder, wie es in einem Gedicht von Antonio Machada heißt, Honig aus unseren alten Fehlern - Schmerzen - zu weben? Gibt es nach Deiner Erfahrung einen "Krisengewinn" oder "Lerngewinn" durch die Bewältigung traumatischer Erlebnisse?
Einer meiner Kurse heißt "Shiatsu - Balsam für die Seele". Die offenen seelischen Wunden heilen mit Shiatsu schneller. Die Narben der Gewalt bleiben jedoch, das Geschehene kann man nicht rückgängig machen. Entscheidend ist, welche Bedeutung wir dem Ereignis hinterher geben. Dies bestimmt, wie wir es bewältigen und in unser Leben integrieren. Jede Krise birgt das Potenzial, dass wir stärker oder schwächer aus ihr herausfinden. Nehmen wir den relativ "einfachen" Fall meines Skiunfalls, den ich in diesem Winter produzierte: Lerne ich daraus, nie mehr auf Skier zu stehen, weil dies zu gefährlich ist, oder lerne ich daraus, meinen Gefühlen besser zu vertrauen ("ich bin jetzt eigentlich zu müde und sollte aufhören"). Verliere ich das Vertrauen in meine Fähigkeiten, oder werde ich achtsamer und sorgfältiger bei dem, was ich gerade tue?
Du kennst die rechtliche Situation des Shiatsu bei uns in Deutschland: heilen und lindern ist nur Ärzten und Heilpraktikern erlaubt. Inwieweit ist die Shiatsubegleitung mit Traumapatienten nach Deiner Einschätzung durch Nicht-Hp´s überhaupt rechtlich zulässig?
Wir dürfen rechtlich gesehen nicht heilen, aber es ist nicht verboten, mit Menschen zu arbeiten, die unter Krankheiten und Beschwerden leiden. Im Shiatsu erheben wir nicht den Anspruch, mit spezifischen Techniken gezielt Beschwerden oder Krankheiten zu beseitigen. Wir behandeln im Shiatsu nicht lokale Symptome, sondern wir behandeln den ganzen Menschen und den Menschen als Ganzes. Wir orientieren uns daran, dem energetischen System zu helfen, wieder in ein dynamisches, sich selbst regulierendes Gleichgewicht zu finden. Quasi als erfreuliche Nebenwirkung der Behandlung verschwinden Beschwerden, die Signale unseres Körpers für ein energetisches Ungleichgewicht sind. Im Zustand der Homöostase muss der Körper keine Warnsignale senden.
Gerne möchte ich auch auf folgendes hinweisen: Die Gesellschaft verändert sich, und viele Gesetze spiegeln eine Weile lang nicht mehr die konkret gelebte Realität und werden schließlich revidiert. Die Bedingungen für Shiatsu waren in der Schweiz vor 15 Jahren sehr rigide. Mitglieder der Shiatsu Gesellschaft Schweiz SGS wurden angezeigt, weil sie die Worte Therapie oder Praxis öffentlich benutzten. Heute wird die Behandlung von Menschen mit Beschwerden von den Krankenkassen in der Zusatzversicherung vergütet, und wir dürfen uns ohne Angst Shiatsu-TherapeutInnen nennen. Am 17. Mai 09 hat sich eine überwältigende Mehrheit von 67% der Schweizer Stimmbürger für die Berücksichtigung der Komplementär-Medizin in der Bundesverfassung ausgesprochen. Eine der Kernforderungen ist die Einrichtung von staatlich anerkannten Berufsabschlüssen in der Komplementär-Therapie, worunter auch das therapeutische Arbeiten mit Shiatsu fällt. Der weltweite gesellschaftliche Wandel gibt Shiatsu Rückenwind.
Wir Shiatsupraktiker sind ja in der Regel keine ausgebildeten Psychologen. Braucht ein traumatisierter Mensch nicht auch so einen kompetente Begleitung?
Es ist äußerst wichtig, dass jede Shiatsu-Praktizierende ihre persönlichen und fachlichen Grenzen kennt, wahrnimmt und kongruent handelt. Bei Menschen mit nachhaltigen Traumafolgen ist eine professionelle, gezielte Traumatherapie dringend angezeigt. Shiatsu kann ergänzend und unterstützend dazu wirken. Im Kurs werden wir dieses Thema vertiefen.
Peter, Du wirst bei uns in der Shiatsu Schule am Freitagabend vor Deinem Kurs einen Vortrag halten. Kannst Du dazu einige Sätze sagen?
Du wirst erfahren, welche Fähigkeiten von der Forschung als wichtig erachtet werden, damit Menschen sich von schweren Schicksalsschlägen wieder erholen. Ich werde am Freitag in einer Demonstration zeigen, wie man mit dem Gespräch vor der Behandlung auf einfache und messbare Weise feststellen kann, wie gut die Klientin ressourciert ist, und wie man ihre Resilienz fördern kann. Im Kurs werden wir dies dann konkret und praktisch üben.
Vielen Dank für das Interview, Peter
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