Interview mit Bill Palmer von Ulrike Schmidt (2017). Übersetzt von Anne Frederiksen.
Lieber Bill,
1973 hast Du begonnen, Shiatsu zu lernen. Was war Deine Motivation?
Mein erster Lehrer, Minoru Kanetsuka, war eigentlich mein Aikido-Lehrer. Er hat immer Shiatsu mit uns gemacht, wenn wir uns verletzt hatten. Die Qualität seiner Berührung hat mir sehr gefallen. Sie fühlte sich kraftvoll, dennoch neutral an. Er hat nicht versucht zu heilen oder irgend etwas zu tun, um mich zu heilen. Er hat meine Aufmerksamkeit lediglich dahin gelenkt, freundlich zu mir selber zu sein, so dass mein Körper Heilung erfahren konnte. Ich habe immer der Idee misstraut, dass jemand als “Heiler” oder “sensei” angesehen wird. In unserer Gesellschaft wollen wir immer zu jemandem aufblicken, dem wir folgen können, wollen für uns selber keine Verantwortung übernehmen. Dieser Herden-Instinkt führt zu vielen der Probleme, die wir auf der Welt haben. Ich mochte Kanetsukas Haltung und seine Berührung, weil mich beides dazu brachte, ihm nicht zu folgen, sondern mit mir selber zu arbeiten.
Was veranlasste Dich weiter zu machen?
Ich habe das Gefühl, dass die grundlegenden Qualitäten der Shiatsu-Berührung – nicht manipulativ, aber tiefgreifend – einen respektvollen Kontakt zwischen den Menschen ausdrückt, der in unserer modernen Welt heutzutage verloren gegangen ist. Ich empfinde Shiatsu nicht als eine therapeutische Technik, sondern als eine Möglichkeit, in Kontakt zu treten. Kanetsuka pflegte über Shiatsu und Aikido zu sagen: “Versuche nicht, die Energie der anderen Person zu kontrollieren. Je mehr Du Dich ihr einfach öffnest, um so weniger Konflikte entstehen.” Für mich ist Shiatsu der physische Aspekt einer Beziehungs-Philosophie, die zu innerem Frieden führt.
Du hast etliche sehr interessante Artikel geschrieben, viele davon im Shiatsu Journal. Ich war besonders berührt von Deiner inneren Haltung den Klienten gegenüber. Du scheinst ein tiefes Verständnis und ein großes Mitgefühl für die Sorgen, Nöte und Schwierigkeiten anderer zu haben. Das geht über das Praktizieren des Achtsamen Shiatsu hinaus. Eine Deiner Grundideen ist, den Wunsch nach Veränderung los zu lassen. Das scheint mir sehr sinnvoll zu sein. Wie können wir als Shiatsu-Praktiker diese Idee den Klienten mit unseren Händen vermitteln?
Klienten kommen normalerweise zur Therapie zu uns, weil sie leiden und nicht wissen, wie sie sich vom Leiden befreien können. Namikoshi hat die berühmte Sentenz geprägt: Shiatsu ist wie die Berührung einer Mutter – das Kind hat sich verletzt, geht zu seiner Mutter und der Schmerz lässt nach. Ich glaube, das stimmt in gewisser Weise. Ein warmer Kontakt kann Schmerzen lindern. Aber ich finde auch, dass wir uns so konditioniert haben, dass wir uns machtlos fühlen. Wir leiden und suchen sofort einen Experten auf, der uns heilen soll. Wir nehmen Tabletten, die uns vom Schmerz befreien sollen. Unser Bildungswesen hilft uns auch nicht dabei, uns selbst zu erforschen und uns unserer Muster bewusst zu werden, auch nicht, uns um uns selber zu kümmern.
Ich glaube eigentlich nicht, dass wir jeden Wunsch nach Veränderung los lassen können. Es ist also nicht so, dass ich den Wunsch nach Veränderung los lasse, sondern lediglich den Wunsch, den Klienten zu verändern oder zu heilen. Das ist besonders bei chronischen, also lang anhaltenden Leiden, wichtig. Wenn der Klient sich als Opfer seines Befindens fühlt, wird er immer nach Rettung suchen und nicht versuchen, seine Muster zu erforschen. Wenn der Therapeut sich in dem Modus befindet, “Ich versuche, Dich zu heilen”, dann wird die Opfer-Haltung des Klienten sich nicht verändern.
Ein großer Teil meiner Arbeit besteht deshalb darin, einem Klienten auf sanfte Weise zu helfen, sich seiner festgefahrenen Muster aus dem Inneren heraus bewusst zu werden und nicht darin, dass ICH ihm sage, was sein Problem ist und wie er es lösen kann. Wenn er sich einmal dessen bewusst wird, kann er beginnen, die Muster zu lösen und mit ihnen zu experimentieren. Und dieser Prozess führt dazu, dass der Körper ins Gleichgewicht kommt. Das kann sowohl mit den Händen als auch mit Worten geschehen. Das ist das Thema unseres Workshops im September. Wie berühren wir, um den Klienten mit seinem inneren Bewusstsein in Kontakt zu bringen? Wie kommunizieren wir auf eine Art und Weise, die dem Klienten hilft, nicht länger das Opfer zu sein, das gerettet werden will, sondern wie helfen wir ihm, sich selbst zu erforschen? Wie können wir Shiatsu auf eine Weise ausführen, dass der Klient wirklich versteht, was wir von Innen heraus machen, so dass er aktiv beteiligt werden kann?
Ein kleines, ganz einfaches Beispiel: stell Dir vor, Du rotierst das Schultergelenk Deines Klienten und bemerkst einen Widerstand, weil ein Muskel angespannt ist. Anstatt die Rotation fortzusetzen, hältst Du inne und fragst ihn, ob er den Widerstand in der Bewegung fühlen kann. Diese Pause bringt Bewusstheit. Meistens wissen die Klienten nicht, wie sie einen chronisch angespannten Muskel lockern können, aber sie wissen, wie sie ihn kontrahieren können (denn sie tun es ja bereits). Anstatt sie zu bitten, sich zu entspannen, bitte ich sie, den Muskel ganz bewusst weiter anzuspannen. Dadurch lässt man den Klienten nicht weiter im Unbewussten, sondern bringt ihm den Vorgang der Kontraktion ins Bewusstsein. Der Klient fühlt, dass er den Muskel anspannen kann, er ist also nicht länger Opfer der Kontraktion. Oft erkennt er dann, wie er ihn auch wieder entspannen kann. Selbst wenn sich der Muskel wieder anspannt, hat das Muster ihn nicht mehr so stark im Griff, weil er bewusst damit experimentiert hat.
Meine Art der Arbeit ist also nicht nur Achtsames Shiatsu, das sich auf die Achtsamkeit des Praktikers bezieht, sondern sie unterstützt den Klienten auf ganz praktische Weise, sich seiner selbst bewusst zu werden.
Ist die verbale Interaktion Teil Deiner Behandlung? Bzw. wie viel Raum gibst Du der verbalen Interaktion?
Ich unterscheide nicht wirklich zwischen verbalem und physischem Kontakt. Das Wichtige ist, WIE beides ausgeführt wird. Hilft die verbale Kommunikation dem Klienten, sich seines Körpers bewusst zu werden oder entfernt sie ihn von der Gegenwart? Bringt Deine physische Berührung Bewusstheit oder bringt sie jemanden in eine passive Trance? Ein Beispiel: ein Klient beginnt seine Sitzung mit den Worten “Ich fühle mich total gestresst heute”. Dann kannst Du fragen, “Was hat diesen Stress ausgelöst?” Das bringt ihn sofort von der Gegenwart in die Vergangenheit. Das mag für Dein Verständnis gut sein, aber nicht für das Körperbewusstsein des Klienten. Andererseits, wenn Du fragst, “Wo fühlst Du diesen Stress in Deinem Körper?”, bringt ihn diese Frage in seinen Körper, und er kann beginnen zu experimentieren, zum Beispiel, indem er diesen Teil des Körpers bewegt und das angespannte Gefühl selber lindern kann.
Wenn Du allerdings sagst; “OK, leg Dich hin, ich mache eine Diagnose, schaue, was gerade anliegt”, und dann Deine Behandlung gibst, mag das sehr erfolgreich sein, und der Klient mag sich wunderbar fühlen, aber er weiß nicht, wie er in diesen Zustand gekommen ist. Er ist immer noch machtlos, nicht in der Lage, sich mit den Dingen selber auseinander zu setzen.
Du sagtest, dass Du im Movement Shiatsu, das Du entwickelt hast, das Mittel der Diagnose nicht nutzt. Mit all unserem Wissen über die Traditionelle Chinesische Medizin, die Ursachen von Symptomen und unserer Fähigkeit, während einer Behandlung zu fühlen, frage ich mich, wie wir es vermeiden können, die Diagnose als Werkzeug zu nutzen?
Es ist ja nicht so, dass ich nie eine Diagnose mache. Aber die Diagnose ist nicht mein AUSGANGSPUNKT. Die Hara-Diagnose zum Beispiel ist eine ziemlich mysteriöse Angelegenheit für den Klienten und hilft ihm nicht zu verstehen, WARUM Du so behandelst wie Du es gerade tust. Es hilft ihm nicht, sich selbst zu helfen. Ich beginne also immer mit dem Problem, das der Klient mitbringt, helfe ihm, dieses Problem in seinem Körper zu fühlen, zu erforschen und damit aktiv zu experimentieren. Uns wird dann bald ein Teil des Körpers bewusst, zu dem er keinen Zugang hat. Zum Beispiel kann er erforschen, wie er atmet und findet dann vielleicht heraus, dass ein Teil seines Körpers nicht mitatmet. Dadurch wird der Klient in die Lage versetzt, etwas über das Phänomen Kyo zu verstehen, Er erkennt, dass es einen Teil in seinem Körper gibt, den sein Bewusstsein nicht erreicht.
An diesem Punkt haben der Klient und ich oft eine Erkenntnis über das energetische Thema, das energetische Problem, das sich im Körper ausdrückt. Mit dieser Erkenntnis kommen Ideen aus meiner Erfahrung und meinem Wissen, wie ich mit diesem Muster im Zusammenspiel mit dem Klienten arbeiten kann. Ich nenne dies eine AUFTAUCHENDE Diagnose. Sie geschieht meistens gegen Ende der Sitzung, nicht so sehr zu Beginn. Daraus können sich dann “Hausaufgaben” ergeben, die der Klient machen kann, um die Arbeit der Sitzung in seinem normalen Leben fortzuführen.
Was können wir dafür tun?
Um so zu arbeiten, braucht es Kreativität und Improvisation. Es gibt keine Routine. Jede Sitzung ist anders. So zu arbeiten, ist also nicht unbedingt für jeden geeignet. Einige Klienten wollen einfach abschalten und behandelt werden, und einige Praktiker wollen möglichst ihrer gewohnten Routine folgen. Das ist auch ganz in Ordnung so. Ich maße mir kein Urteil an,WIE Shiatsu ausgeführt werden sollte. Aber wenn jemand in einem chronischen Zustand stecken bleibt – das ist jedenfalls meine Erfahrung – oder wenn er seit langem an einer Behinderung leidet, dann kommt es früher oder später dazu, dass er erkennt, dass er auf die bisherige Weise nicht geheilt werden kann, und dann ist die Art, wie ich arbeite, sinnvoll.
In der Zwischenzeit kannst Du bestimmte Techniken in Deine Sitzung einbauen, die dem Klienten helfen, sich seiner inneren Empfindungen bewusst zu werden und mit den energetischen Mustern zu experimentieren. Du kannst auch eine Diagnose machen, aber wenn Du ein muskuläres Muster, wie chronische Anspannung, bemerkst, kannst Du dem Klienten helfen, dieses zu erforschen und damit zu experimentieren.
Könnte es sein, dass wir an unsere innere Harmonie erinnert werden sollten - wie Du es in Deinem Artikel “Muskeln haben auch Gefühle” beschreibst?
Movement Shiatsu ist sehr breit angelegt. Es ist eher eine Haltung als eine Technik. Du kannst Zen Shiatsu praktizieren und die Haltung des Movement Shiatsu einbeziehen, um dem Klienten zu helfen, sich seiner selbst bewusst zu werden und ihm Eigenverantwortung zu geben.
Du hast über 30 Jahre lang mit schwer behinderten Kindern gearbeitet. Ich war geradezu schockiert zu hören, dass diese Kinder durch konventionelle Behandlungen traumatisiert worden sind. Statt sie auf ihrem Level “abzuholen, wurden sie gezwungen, oft unerreichbare Ziele anzustreben. Dadurch fühlten sie sich unzulänglich und mit einem Mangel oder Makel behaftet. Könntest Du das näher ausführen?
Die meisten Klienten und Therapeuten spielen das Spiel “Irgend etwas stimmt mit mir nicht, kannst Du es wieder richten?”. Bei einem normal gesunden Erwachsenen, der zum Beispiel sein Knie verletzt hat, wird das keinen Einfluss auf sein Selbstwertgefühl haben. Für ein behindertes Kind aber ist das ganz anders. Wenn Du Dich nur auf die Probleme konzentrierst, dann hat das Kind das Gefühl, dass etwas auf einer tiefen seelischen Ebene mit ihm nicht in Ordnung ist. Das meinte ich, als ich sagte, dass Kinder durch die Therapie traumatisiert worden sind.
Wenn ich mit einem behinderten Kind arbeite, schaue ich erst einmal, was das Kind wirklich gut kann, und sei es nur eine seltsame Bewegung. Ein sechsjähriges Mädchen, zum Beispiel, mit dem ich kürzlich gearbeitet habe, kann nur ihre Augenbewegungen kontrollieren. Ich habe deshalb Spiele mit ihr gespielt, bei denen sie ihre Augen so weit sie nur konnte bewegen sollte. Dadurch fühlte sie bereits einen ERFOLG! Dann berührte ich ihren Nacken und bat sie, den Kopf noch etwas weiter zu drehen, so dass sie das Augenspiel noch erweitern konnte.
Zuerst war es so, dass sie ihren Kopf leichter nach oben und unten bewegen konnte, als ihn von links nach rechts zu drehen.Wir spielten also so lange mit der Auf- und Ab-Bewegung bis sie diese Bewegung wirklich kontrollieren konnte. Dann begannen wir die schwierigeren Bewegungen zu erforschen. Auf jeder Ebene fühlte sie sich durch den vorherigen Erfolg besser. Ich habe durch meine Berührung nicht versucht, sie zu “pushen”, den Muskeln aber das Gefühl gegeben, dass sie die Bewegung machen und ihren eigenen Weg in diese Bewegung hinein finden konnten.
Ich finde, dass der Ansatz “Arbeite mit der Fähigkeit eines Klienten und nicht mit seiner Unfähigkeit” ein Mantra ist, das für jeden nützlich sein kann. Die Menschen konzentrieren sich immer zu sehr auf ihre Probleme und verlieren dadurch ihren eigenen Antrieb.
Du unterrichtest den Workshop “Worte und Hände” zusammen mit Deiner Frau Teresa Hadland an unserer Schule im September. Was können die Teilnehmer von diesem Workshop mit nach Hause nehmen?
Ich glaube, ich habe schon das Thema des Workshops erklärt, aber die Dinge, von denen ich hoffe, dass die Teilnehmer sie mit nach Hause nehmen können, sind:
Du unterrichtest in Europa, den Vereinigten Staaten und Australien, hast also sehr viel Erfahrung. Welches Feedback bekommst Du von den Studenten, die Deine Kurse besuchen?
Das Haupt-Feedback, das ich von den Teilnehmern bekommen habe, ist:
Lieber Bill, ich bin sehr gespannt auf Deinen Besuch mit Teresa im September.
Ganz herzlichen Dank für das Interview!
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