Ein Interview mit Astrid Collmann von Ulrike Schmidt

 

Ein Interview mit Astrid Collmann von Ulrike Schmidt

von 2009

Vom Wunder eine Blume zu herzen


Astrid, Du bist gelernte Bibliothekarin, hast jahrelang mit dem Künstler Horst Janssen zusammengearbeitet - erinnerst Du den Impuls, aus dem heraus Du mit Shiatsu begonnen hast? Was hat Dich so inspiriert, bzw. fasziniert am Shiatsu, dass Du Deinen ursprünglichen Beruf aufgegeben hast?

Mit meiner ersten Ausbildung als Bibliothekarin arbeitete ich erst in einem Verlag, dann in der Galerie Brockstedt in Hamburg, der „Hausgalerie" von Horst Janssen. Aber das war lange bevor ich von Shiatsu irgendetwas erahnte. Meine erste Verbindung zum Shiatsu verdanke ich, Mitte der 1970er Jahre, meinem Zenmeister, dem japanischen Zen-Mönch Taisen Deshimaru Roshi. Ich war damals richtig auf der Suche, hatte meinen damaligen Beruf längst aufgegeben und ein Psychologie-Studium begonnen. Zu der Zeit traf ich meinen Meister und fühlte mich dort und im Zazen, der Zen-Meditation, sofort heimisch. Ich war angekommen. Auf den Sesshins, zwischen dem stundenlangen Sitzen, gab es zur Entspannung oft Shiatsu. Ich erfuhr schnell, wie vielseitig Shiatsu ist. Mein Meister setzte es auch ein, wenn jemand krank war oder Schmerzen hatte, und ich schaute fasziniert zu. Das wollte ich auch können! Es bewirkte eigentlich immer etwas. Eines Tages probierte ich dann selbst bei einer Freundin ein bisschen Shiatsu, weil sie Kopfschmerzen hatte, und diese waren anschließend tatsächlich verflogen. Das kam mir vor wie ein Wunder, machte mir Spaß und erfüllte mich mit Freude. So fing es an.


Vor einigen Jahren hast Du Berlin verlassen, um in einer ganzheitlich orientierten Gemeinschaft, dem `Samainhof´ in Parsberg, zu leben. Was ist der Gewinn für Dich - welche Vision hat Dir den Mut gegeben, nach Jahrzehnten das Großstadtleben aufzugeben?

Ein wichtiger Motor war die Einsamkeit, die ich in meinen letzten Berliner Jahren zunehmend empfand. Wesentliche Freundschaften und Verbindungen waren in die Brüche gegangen, die anderen lebten in festen Beziehungen und Familien, so gab es kaum mehr Verbindlichkeit in meinen Beziehungen. Außerdem kam mir das Berliner Stadtleben immer künstlicher vor und mir fehlte die Natur. Und zwar mehr Natur als die Stadt mitsamt ihrer herrlichen Umgebung zu bieten hat. Und ich wünschte mir, mit anderen Wesen, mit Tieren zusammen zu leben. Es tauchten Erinnerungen an meine Kindheit auf, da ich die ersten sechs Jahre meines Lebens mit meiner Familie auf einem Bauernhof mit allem Drum und Dran verbracht hatte. Mein Wunsch war, wirklich „wesentlich" zu werden und zu leben, in Verbundenheit mit Menschen und Tieren, einfach und auf der Erde zu sein. Und genau das habe ich hier am Samain-Hof gefunden. Hier bin ich eingebunden in eine generations-übergreifende Gemeinschaft mit den unterschiedlichsten Menschen, jedoch alle mit demselben Wunsch nach Zugehörigkeit, gemeinsamen Wachstum und Verbundenheit zu den Tieren und der Natur. Seitdem reite ich, habe ein eigenes Pferd, das ich sehr liebe und von dem ich viel lerne; ich habe hier überhaupt ein völlig neues Leben gewonnen mit unendlich viel mehr Lebendigkeit und Lebensfreude.


Wie war Dein Weg von der Zenmeditation zum Shiatsu? Inwieweit hat das Zen Deine Handschrift im Shiatsu geprägt?

Mein Shiatsu ist direkt aus der Zenmeditation hervorgegangen, ist sozusagen ein Kind vom Zazen. Allein das Hara: es spielt im Zazen die zentrale Rolle, wie im Shiatsu auch. Ebenso die Stille, das Durchlässige, Offene, Gefäß-werden, die Absichtslosigkeit. Aber all das ist meiner Meinung nach ohne die Konzentration auf das Hara nicht möglich. Darum lege ich in der Shiatsuausbildung soviel Wert auf die Meditation. Darüber hinaus macht die Verbindung zum Hara unser Leben weit: sie ermöglicht es uns, das Leben in seiner ganzen Fülle zu nehmen und zu erleben und öffnet uns für die spirituelle Dimension unseres Daseins; die Verwurzelung im Hara, in der Erde. Das finde ich so wichtig: dieses offen sein für alle Aspekte des Lebens, ohne Ausnahme.


Was ist los mit uns Menschen, dass wir „verlernt" haben, heil zu sein? Was fehlt uns, was vergessen wir? Woher kam plötzlich der Shiatsuboom, der `die Szene´ wie eine Welle überrollt hat?

Ich glaube, wir haben unser Gleichgewicht verloren. Wir leben zu einseitig, und zwar zuviel mit dem Kopf. Das bedeutet eine Überbetonung der linken Gehirnhälfte. Der Mensch denkt zu viel, will alles kontrollieren, alles in der Hand haben, nichts offen lassen, jede Frage und Unsicherheit augenblicklich beseitigen und lösen. Dabei geht das Gefühl für uns als Ganzes verloren. Das Körperbewusstsein - das Hara! - und die rechte Gehirnhälfte verkümmert, und dadurch verlieren wir letztendlich den Kontakt, wir entfernen uns von uns selbst und suchen unser „Heil" draußen, außerhalb von uns. Der Erfolg gibt uns erstmal recht, die Antworten, die wir finden, machen uns recht übermütig, so dass wir ganz vergessen und nicht akzeptieren wollen, dass ein großer Teil unseres Lebens trotzdem aus Nicht-Wissen, Unfähigkeit, Unsicherheit und aus Ohnmacht besteht, was wir gar nicht leiden können. Wir können uns nicht damit abfinden, dass nicht alles angenehm und schön ist und nicht leicht läuft, sondern dass zum Leben untrennbar der Tod dazugehört, zur Freude das Leid.
Stattdessen geben wir uns mit Augenblickslösungen zufrieden: zum Beispiel Medikamente gegen jede Art von Schmerz, die uns in Wirklichkeit noch kränker und unglücklicher machen.
Aber inzwischen haben sich viele Menschen auf den Weg gemacht, sich aus dieser Sackgasse zu befreien. Sie wenden sich nach innen, ihrem Ganz-Sein wieder zu, um das Verlorene zu integrieren. Dabei stoßen sie, wie wir ja auch, auf Shiatsu: es hilft uns, unser Gleichgewicht wieder zu finden. Im Zen heißt es dazu: „Haftet an nichts - und lauft vor nichts davon".


Was ist Deine größte Ressource im Shiatsu?

Meine Fähigkeit, im Hara zu sein und das Hara wachsen zu lassen.


Was würde Dir im Leben fehlen ohne Shiatsu?

Etwas, wo ich selbstvergessen und auf einer anderen Ebene hellwach sein kann. Und das Glück, auf diese wunderbare Weise mein Geld verdienen und obendrein noch Menschen dienen zu können.


Vor 27 Jahren bist Du zum ersten Mal Ohashi begegnet - welcher Satz vom ihm klingt Dir noch in den Ohren?

Da fallen mir gleich drei Aussagen ein, die meinen eigenen Shiatsuunterricht immer wieder würzen und begleiten.
„ Hast Du Schwierigkeiten mit Deiner Schwiegermutter, musst du ihr Shiatsu geben - und du wirst sie sehr schnell lieb haben"

„Shiatsu ist eine Körperarbeit - bodywork - mein Körper arbeitet und mein Hara bewegt sich..."

„Shiatsu ist eine Kunst" - also kein Schema F, sondern immer direkte Antwort auf das, was sich im Augenblick gerade zeigt. Wie das Leben entzieht es sich einer Festlegung und strengen Regel. Deshalb ist ja das Hara so wichtig und das Fühlen!


Wenn Masunaga noch leben würde, was würdest Du ihn gerne fragen?

Ich frage eigentlich weniger, als dass ich beobachte. Ich würde ihm also sooft ich kann bei der Arbeit zuschauen. Und nachmachen und es erfahren. Das wünsche ich mir auch von meinen Schülern: dass sie einfach nachmachen - eigentlich wie ein Kind, aus dem Nicht-Wissen heraus Erfahrungen sammeln und dann erst Fragen stellen. Ich glaube, so lernt man am tiefsten und so wird man authentisch.
Meister Deshimaru und Ohashi haben mir das beigebracht. Ohashi war für mich ein wunderbarer Shiatsulehrer. Eine Geschichte möchte ich dazu noch erzählen. Ich durfte zuschauen, wie Ohashi der zweijährigen Tochter einer Freundin Shiatsu gab. Die kleine Anna hatte bereits etliche Wochen Grippe, war sehr geschwächt und absolut teilnahmslos, fast apathisch. In diesem Zustand kam sie zu Ohashi auf die Matte. Er arbeitete mit diesem kleinen Wesen spielerisch und mit entsprechender Zartheit, dennoch bestimmt und präzise. Auf einmal, nach ungefähr 15 Minuten, ging im Zimmer regelrecht die Sonne auf: als hätte sich ein grauer Schleier von ihrem Gesicht weggehoben, so fing Anna an zu strahlen, lief staunend durchs Zimmer, untersuchte alles und entdeckte dabei die Blumen in der Vase. Sie lief darauf zu und herzte und koste sie voller Glückseligkeit, als hätte sie noch nie eine Blume gesehen. Dieses kleine Wunder hat sich tief in meinem Herzen eingeprägt - ich werde es nie vergessen.


Liebe Astrid, vielen Dank für das Interview!

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